26.5.07

Familiengeschichte

Mein Opa wurde 1917 in der Nähe von Aachen geboren. Er war das uneheliche Kind einer jungen katholischen Frau aus dem Ort und eines Soldaten, der von dort auf der Durchreise nach Verdun war, sein Name ist nicht bekannt. Nachvollziehbarer Weise konnte die Frau das Kind nicht behalten und gab es in ein Kloster, dessen Nonnen sich um solche Fälle kümmerte. Dass dieser Junge ein ausgeprägtes musikalisches Talent und Interesse hatte, sollte sich bald als Glücksfall herausstellen; Eine der Nonnen hatte einen Bruder, dessen Ehe bis dahin kinderlos geblieben war und der ebenso musikalisch war. So wurde der vierjährige Joseph adoptiert und zog in einen Haushalt, in dem der Vater seine Frau, seine Mutter und zwei seiner unverheirateten Schwestern ernähren musste. Trotz der relativen Armut der Familie konnte mein Opa einen normalen Schulabschluss erreichen, war sich aber nicht sicher was nun anzustellen war. Irgendwann, kurz vor Ende seiner Schulzeit, beschloss er das Geigenspiel zu lernen, ging ein Jahr lang Tag für Tag in Bibliotheken um dort Harmonielehre und Musiktheorie zu lernen; trotz seines vorherigen totalen musikalischen Laiendaseins wurde er auf Anhieb zum Musikstudium an der Essener Folkwangschule aufgenommen.
Von dort an verschwimmt mein Bild zunächst etwas; die nächsten Informationen die spärlich aus meiner Familie fließen, besagen dass er 1934 in Anwesenheit meiner Oma in einem Hotel seine leibliche Mutter traf, eine Begegnung, die offenbar sehr kühl verlief. Er war vor Kriegsbeginn in der Sturmschar des katholischen Jungmännervereins aktik, was martialischer klingt als es ist, er wurde sogar im Dritten Reich verurteilt, weil er bei einer katholischen Jugendfahrt mit den Jugendlichen ein Zelt aufbaute, dessen Aufstellung allein der Hitlerjugend vorbehalten war (ein Widerstandskämpfer war er aber dennoch nicht). Mein Opa kämpfte über die gesamte Zeit des Weltkriegs in der Wehrmacht, hauptsächlich in Russland. Dort wäre er beinahe ums Leben gekommen, als er an Malaria erkrankte und beim hektischen Rückzug zurückgelassen wurde; ein Freund trug ihn doch noch in den abfahrbereiten Zug. Zum Ende des Krieges geriet er in französische Kriegsgefangenschaft, aus der er mir einmal die Anekdote erzählte, wie sie damals Nahrung erhielten: Über eine Rampe wurden rohe Kartoffeln zu ihnen hinuntergerollt, jeder bekam eine. Als Kind erschien mir das wie ein Spiel, heute vermag ich mir ein solches Elend nicht vorzustellen.
Nach dem Krieg wurde mein Opa im Zuge der Entnazifizierung Religionslehrer an einer Berufsschule und bekam mit meiner Oma vier Kinder, als drittes Kind kam 1952 meine Mutter auf die Welt. In dieser Zeit engagierte sich mein Opa schon in linken katholischen Laienorganisationen und gab katholische Gewerkschaftszeitungen heraus. Er war Mitbegründer des "Essener Kreises" und wurde später dessen spiritus rector. Aus der Zeit der 50er Jahre stammen auch einige Fotos von Wahlkampftouren Konrad Adenauers auf denen mein Opa im Hintergrund steht; so ganz einordnen kann ich die nicht, immerhin strebte Adenauer nach der Neugründung der Bundeswehr die mein Opa mit allen friedlichen Mitteln zu verhindern suchte.
In den 80er Jahren erblindete mein Opa zusehends, ich erinnere mich noch an einige Treffen bei denen ich mich direkt vor ihn stellen musste damit er noch schemenhaft erkenne wie ich gewachsen bin. Oft erzählte er uns Geschichten, ebenso oft saß er mit im Kinderzimmer wenn meine Eltern uns Geschichten von Michel aus Lönneberga vorlasen.
Ich glaube ich kenne keinen Menschen den ich mehr bewundere als meinen Opa. Politisch engagiert, sich nie für einen klugen Gedanken zu schade, mit einer unglaublichen Gabe für das Schreiben von Liedern (die Noten seiner Vertonungen verschiedener Gedichte füllen Ordner im Regal meiner Mutter) und mit einer enormen Kraft trotz der Bürde, die ihm das Alter auferlegte. 2004 ist mein Opa mit 87 Jahren gestorben, selten habe ich mich so schrecklich gefühlt wie an diesem Tag. Bis kurz vor seinem Tod verbrachte er mehrere Stunden täglich damit, sein theologisches Lebenswerk in Buchform zu bringen, dazu sprach er Satz für Satz auf Kassette. Ich habe einmal versucht, diese Kassetten abzutippen, es war mir akustisch unmöglich und überstieg meine geistigen Kapazitäten um Lichtjahre. Beeindruckt bin ich davon bis heute.

Warum ich das schreibe? Genau weiß ich das nicht, aber irgendwie musste es mal raus. Vielleicht ist es auch nur mein kleiner Startschuss, mich diesem Thema einmal wirklich zu widmen; der Nachlass meines Opas ist komplett erhalten und wird von meiner Oma übersorgfältig gehütet. Und die Vorstellung, dass dieser Mann vergessen werden könnte macht mich höchst unzufrieden. Zum Schluss noch ein Zitat, das er 1980 in einem WDR-Interview äußerte:

"Wir waren uns im klaren darüber, dass wir diesen Krieg nicht gewinnen durften. Wir standen also zusätzlich in der Schizophrenie, für einen Sieg kämpfen zu sollen und zu wollen und zu müssen, den wir um Gottes Willen nicht haben wollten, denn wir waren uns ziemlich im klaren darüber, was mit uns qua Kirche und qua Christentum geschehen würde, wenn der NS tatsächlich siegen würde... Wir kämpften in einem Krieg mit, den wir für unrecht hielten, und wir kämpften für einen Sieg, den wir unter keinen Umständen wollten, und wir verrechneten das gesamte als Schicksal. Schlußbemerkung dazu: So prägnant, wie ich das jetzt gesagt habe, hätte ich das damals vermutlich nicht sagen können - das ändert aber nichts daran, dass ich genau das gewußt habe, und dass das mein Bewusstseinsstand von damals war."

2 Comments:

  • At 27. Mai 2007 um 00:23, Blogger Oxymoronny said…

    Interessant. Wurden denn die vertonten Gedichte irgendwann irgendwo auch mal aufgenommen oder so etwas?

     
  • At 27. Mai 2007 um 05:09, Blogger Unknown said…

    Großartiger Eintrag.
    Mein Opa war in russischer Gefangenschaft. Er lebt noch, aber ich könnte niemals eine so detaillierte Erzählung seines Lebens erstellen. :-/

     

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